Erinnerungen des Schneidermeisters Max Kann

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Zur Verfügung gestellt von Peter Kann
Fotos, Bilder, Postkarten von Uwe Borchers, Bernd Schmidt, Reimer Schlichting und dem Stadtarchiv Brunsbüttel

Johann Kann wurde am 13. Juli 1872 als zweiter Sohn des landwirtschaftlichen Arbeiters Ilpern Kann und seiner Ehefrau Trina in Büttel an der Elbe geboren. Ilpern Kann galt als fleißiger, gern gesuchter Arbeiter. Nach Erzählungen der Altbäuerin Siemen in St. Margarethen besaß er die besondere Gabe, Wert oder Unwert eines Ackerbodens zu erkennen. Er nahm dazu eine winzige Bodenprobe auf seine Zunge, um am Geschmack dieser Erdprobe seinen Gehalt an Nährstoffen zu erkennen. Eine wohl angeborene Begabung und eine Methode, die heute nur mit Hilfe von Chemikalien durchgeführt werden kann.
Die Ehefrau Trina hat viele Jahre in ihrer Ehe mitgeholfen, für die fünf Kinder (vier Jungs und ein Mädchen) zu sorgen. Es hat harte Jahre für alle Familienmitglieder gegeben. Oft im Winter, bei Arbeitslosigkeit des Ilpern Kann, ging das Geld aus. Dann mußte beim Kaufmann, beim Bäcker und beim Schlachter auf Kredit gekauft werden. Diese Schulden wurden während der Sommermonate wieder abgetragen.
(Anmerkung:Das Einkaufen auf „Anschreiben“ in einem kleinen Büchlein war bis in die 60er-Jahre üblich. Fragte die Kundin dann am Monatsanfang, ob jetzt alles bezahlt ist, so war die Antwort nicht selten: „Alln´s betohlt un doon …“)

In einem besonders frühen und harten Winter fehlte zum Weihnachtsfest das Geld für einen Weihnachtsbaum. Aus einem Besenstiel, in den Löcher gebohrt und dann mit Abfallzweigen bestückt wurde, entstand ein eigener Weihnachtsbaum. Geschmückt wurde er dann mit einigen Papierketten. Als Geschenk erhielten die Kinder dann selbstgestrickte Handschuhe oder Strümpfe. Die Wolle dafür war von Trina Kann selbst gesponnen worden.
Nur in den Wintermonaten konnten die Kinder regelmäßig die Schule besuchen; im Sommer dagegen galt es oft, in der Landwirtschaft mitzuarbeiten, um die „Winterschulden“ abzutragen und die Familienkasse aufzubessern. Durch Eigenbeschäftigung mit den Schulbüchern haben die Kinder dann versucht, die verlorenen Schultage auszugleichen.

Johann Kann wurde am 1. April 1878 in die Dorfschule St. Margarethen eingeschult, aus welcher er am 16. März 1888 aus der ersten Klasse entlassen wurde. Leiter der Schule war der „Posetter“ Ehlers, Schulinspektor der Pastor Kramm aus St. Margarethen. (Das Wort „Posetter“ oder auch „Persetter“ hörte ich oft von meinem Vater. Es ist die niederdeutsche Übersetzung für Lehrer.)
Das Kirchensiegel in Verbindung mit dem Namenszug des Pastors als Aufsichtsbehörde der Schule zeigt die damalige enge Verflechtung von Kirche und Schule. In der Leistungsbeurteilung der Schüler stand deshalb auch das Lehrfach „Religion“ an erster Stelle.
Zwei Tage nach der Schulentlassung, am 18. März 1888, wurde Johann Kann in der Dorfkirche konfirmiert. Er hat später erzählt, daß an diesem Tage viel Schnee lag und ein strenger Frost herrschte. Da die Kirchen zu damaliger Zeit unbeheizt waren, hat es sicher viele kalte Hände und Füße gegeben.

Johann Kann 18.02.1899
Koogstr.79-Familie Bols um 1900

Über die Tätigkeiten von Johann Kann in den Jahren 1888 bis 1893 gibt es keine Hinweise mehr.
Vom 14. Oktober bis zum 25. September 1895 hat er seiner Wehrpflicht in der Garnison Hagenau/Elsaß (früher deutsch, heute französisch) genügt. Aus dieser Zeit hat er immer wieder erzählt, wobei die Ortsnamen Weissenburg, Bischweiler, Schweighausen und Sufflenheim von ihm erwähnt wurden. Ein Teil dieser Namen tauchte zugleich auch im Kriegstagebuch seines Vaters, Ilpern Kann, auf, das dieser als Landwehrmann während seines Einsatzes im deutsch-französischen Krieg 1870/71 geführt hat. Zum dritten Male erschienen die gleichen Namen in meinen eigenen Kriegsaufzeichnungen aus dem Jahr 1945.
In seiner Militärdienstzeit scheint Johann Kann mit dem Beruf des Herren- und Uniformschneiders in Berührung gekommen zu sein. Im Monat Oktober 1895 reiste er nach Dresden, um dort an einem Zuschneidelehrgang teilzunehmen. Über diese Ausbildung gibt es noch das Zeugnis (sächsisch „Zeichniß“).

Führungs-Zeichniß! Unterzeichneter bescheinigt hiermit, daß Herr Johann Kann aus St. Margarethen vom 15. Oktober 1895 bis den 25. Januar 1896 sich bei mir, mit großem Fleiß und Geschicklichkeit sowie Bescheidenheit, im Schneider-Handwerk und im Zuschneiden der Herren- und Damenbekleidung ausgebildet hat, worüber mir derselbe für das Erlernte seine vollste Anerkennung zollte.
Dresden, den 25. Januar 1896
Hochachtend
F.O. Vogel

Nach seiner Rückkehr aus Dresden hat Johann Kann dann höchstwahrscheinlich in den nächste beiden Jahren bei dem Schneidermeister Hermann Niensteen in Brunsbüttelkoog, in der Eddelaker Straße zur weiteren Ausbildung als Gehilfe gearbeitet.

Werbung Lahrssen 24.03.1900

Über den Gründungstag der Schneiderei Johann Kann gibt es zwei Versionen. Nach der Erzählung unserer Mutter, Auguste Kann, im Jahre 1967, hat sich Johann Kann am 11. Februar 1899 in der Karlstraße 2, im Hause Riemann, selbständig gemacht. Eine Bescheinigung der Landgemeinde Brunsbüttelkoog sagt aber folgendes:

Auf Antrag wird hiermit bescheinigt, daß der Schneidermeister Johann Kann in Brunsbüttelkoog sein Gewerbe am 1. April 1899 angemeldet hat. Brunsbüttelhafen, den 28. Februar 1910

(Dienstsiegel) Die Koogschreiberei

(Anmerkung: die erste Werbung von Johann Kann war allerdings am 18.02.1899 in der Kanal-Zeitung) .

Zementfabrik Saturn, rechts Ziegelei Festge

Am 1. April 1900 verzog Johann Kann von der Karlstraße in die Frischstraße, Ecke Annastraße. Er übernahm dort eine Filiale des Kaufmanns Johannes Lahrssen, der in seinem Zweiggeschäft Kleidung, Schuhe, Bier usw. verkaufen ließ. Die Lage dieses Ladens konnte sicher als erfolgversprechend angesehen werden, befanden sich doch in unmittelbarer Nachbarschaft eine Zementfabrik sowie eine Ziegelei. Beide Betriebe beschäftigten zusammen etliche hundert Menschen.
In diesem Hause heiratete er dann 28-jährig, am 5. August des gleichen Jahres die 18-jährige Auguste Bartels. Als Wohnung dienten den beiden in der zweiten Etage des Hauses zwei Räume, Küche und Schlafzimmer.
Nur eineinhalb Jahre hat er diesen Laden geführt, dann verzog er am 1. Oktober 1901 in die Fährstraße 2, Ecke Cuxhavener Straße. Dort wurde auch sein erstes Kind, die Tochter Berta, geboren.


Zwei Jahre später, 1903, zog er von der Südseite auf die Nordseite des Ortes, in die Koogstraße 79. Hausbesitzer war Hinrich Bols. Was mag ihn damals bewogen haben, auf die nördliche Seite des Ortes zu ziehen! An der alten Koogstraße standen zu der Zeit nur einige wenige Häuser. Rechts und links der Straße, in unmittelbarer Nähe des Kaiser-Wilhelm-Kanals, gab es jedoch zwei größere Wohnsiedlungen, bewohnt von Kanalangehörigen.
Zudem entwickelte sich gerade an der Koogstraße eine erhebliche Bautätigkeit. Mehrere Handels- und Gewerbebetriebe waren schon gebaut bzw. geplant. In diesem Haus, Koogstraße 79, wurde ich, sein Sohn Max Kann, 1904 geboren. Im Sommer 1907 verzog er dann in das kaum ein Jahr alte Haus, Koogstraße 69. Besitzer war der Maurermeister Heinrich Mohr. Das Untergeschoß, das er mietete, bestand aus einem kleinen Laden, zwei Zimmern und Küche mit Speisekammer und einer kleinen Werkstatt, die sich in einem Anbau auf der Rückseite des Hauses befand. Zwei Dachkammern im Dachgeschoß, sowie eine von beiden Mietern gemeinsam benutzte Waschküche und ein kleiner Kohlenstall vervollständigten die Wohnung.

Ich war zu der Zeit drei Jahre alt, kann mich aber noch recht gut auf diesen Umzug besinnen. In dem kleinen Garten der neuen Wohnung standen Blumen, über die ich nicht hinwegsehen konnte. Waren die so groß oder war ich so klein? Zudem hatte dieses Haus noch keine Nachbarn. Rechts und links und nach rückwärts war grüne Wiese. Vor dem Haus gab es noch den Entwässerungsgraben. Ein Holzsteg führte von der Straße an das Haus.

So sah die Koogstraße mit dem Entwässerungsgraben zu dieser Zeit aus

Warum ich mich an die Wiese hinter dem Haus noch erinnern kann:
Ich spielte mit meiner Schwester Berta im Garten, als plötzlich von der Straße her ein Ochse auftauchte. Furchtbar schreiend rannten wir in die äußerste Gartenecke. Unser Schreien alarmierte nun unseren Vater in seiner Werkstatt. Er kam gelaufen und hob beide über den Gartenzaun hinweg auf die Wiese. Da standen wir nun sicher und geborgen vor diesem Ungetüm.

Das 1. Beamtenviertel 1900

Wie richtig die Übersiedlung in die Koogstraße war, zeigten die nächsten Jahre. Nicht nur an der Koogstraße entwickelte sich eine rege Bautätigkeit. Auch der sich bald abzeichnende Erweiterungsbau des Kaiser-Wilhelm-Kanals, der Großschleusenbau und die Erstellung einer großzügigen Wohnsiedlung, das Beamtenviertel Brunsbüttel, in unmittelbarer Nachbarschaft der Koogstraße, ließen diese Straße bald zu einer Hauptverkehrs- und Geschäftsstraße werden.

Barackenlager für Kanalarbeiter ca. 1895

Zudem entstanden für die vielen am Kanal- und Schleusenbau beschäftigten, ausländischen Arbeitskräfte umfangreich Barackenlager auf der Nordseite des Ortes.
Es ist sicher interessant – und heute, nach 75 Jahren, wohl angebracht, über die wirtschaftlichen und finanziellen Gegebenheiten des Ehepaares Johann und Auguste Kann zu schreiben. Da persönliche Aufzeichnungen kaum vorhanden sind und sich diese Angaben deshalb nur auf Erinnerungen der Kinder stützen, werden Lücken auftreten.
Schon drei Wochen nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst begann Johann Kann seine Ausbildung in Dresden. Das Geld dafür hat er sich leihen müssen. Bei einem täglichen Taschengeld von 10 Pfennig als Soldat hat er keine Ersparnisse machen können, zumal davon auch noch alle Putzmittel zu kaufen waren. Die Schulden für diese Ausbildung hat er dann in den nächsten Jahren abgetragen.

So ähnlich sah wohl das Bügeleisen aus

Seine Schneiderei begann er mit den einfachsten Geräten. Ein Vollbügeleisen im Gewicht von 16 Pfund hatte ihm ein Schmied in St. Margarethen angefertigt. Als Material diente ein Stück einer Geschützachse, ein Beutestück aus dem Kriege 1870/71. Dieses Eisen mußte auf einer Herdplatte für den Gebrauch erhitzt werden. Einige Jahre später legte er sich ein Holzkohleeisen zu.

So könnte die "Singer" ausgesehen haben
Männerturnverein 12.04.1889
Dusenddüwelswarf

Eine Nähmaschine hat er sich ebenfalls auf Abzahlung kaufen müssen. Diese „Singer-Nähmaschine“ ist noch heute bei einer befreundeten Familie in Gebrauch. Sicher ein Zeichen für die Wertarbeit damaliger Industrie.
Die Küchenmöbel fertigte Johann Kann selber an. Ein kleiner Hängekasten mit Spiegel, ausgeführt in Laubsägearbeit und angefertigt aus Zigarrenkistenholz, war noch bis zum Tod meiner Mutter in ihrem Besitz.
Mit großem Fleiß und größter Sparsamkeit haben Johann und Auguste Kann nicht nur die Schulden abgetragen, sondern sich darüber hinaus, bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges im Jahre 1914, eine solide Wohnungseinrichtung geschaffen. Im Laden lag ein recht ansehnliches Stofflager, darüber hinaus war noch Bargeld vorhanden. Zudem wurden in den Jahren sieben Kinder geboren, von denen drei als Kleinstkinder wieder starben. Auch die derzeitigen Preise sind es wert, in Erinnerung gerufen zu werden. Ein guter Herrenanzugsstoff war für sechs Rentenmark zu haben. Für einen Maßanzug wurde 50-60 RM bezahlt. Der Meisterlohn lag zwischen 60 bis 70 Pfennig. Die Wochenarbeitsstundenzahl bei meinen Eltern lag zwischen 60 und 70 Stunden. Sonntagsarbeit war vielfach üblich. Ladenschlußzeiten waren unbekannt. Alle Läden waren wochentags bis 22 Uhr, am Sonntag in der Regel bis 13 Uhr geöffnet. Da alle Arbeiter beim Kanalbau werktäglich von 6.00 Uhr bis 18.00 Uhr arbeiteten, verblieb ihnen nur der Sonntag als freier Tag für die Einkäufe. Ich entsinne mich noch recht gut der Fremdarbeiter, wie sie, teils noch in Heimattracht, am Sonntagmorgen die Koogstraße bevölkerten. Manches Kleidungsstück, von meinem Vater angefertigt, ist damals bis 1914 nach Polen oder den Balkan gewandert.

Mobilmachung

Der Ausbruch des 1. Weltkriegs am 1. August 1914 beendete recht hart diese solide geschäftliche Entwicklung. Gleich mit Kriegsbeginn wurde mein Vater zum Landsturm-Infanterie-Bataillon Rendsburg eingezogen. Diese Einheit war über die ganze Kriegszeit hinweg auf der Insel Sylt stationiert.
Für meine Mutter begann eine harte Zeit. Eine staatliche Familienunterstützung war unbekannt. Alle Mütter waren sich selbst überlassen. Waren Ersparnisse vorhanden, mußten diese aufgebraucht werden. Für viele Familien begann damit ein Kampf um das nackte Überleben. Meine Mutter führte kleine Reparaturen und Änderungen von Kleidung aus. Zudem vermietete sie zeitweilig Wohn- und Schlafstube an Soldaten und deren Ehefrauen.
Wir Kinder schliefen dann mit unserer Mutter in den Dachkammern auf Matratzen, die auf dem Boden ausgebreitet waren. Für uns eine recht interessante Angelegenheit. Unser Vater, der auf Sylt in seinem Beruf eingesetzt war, hat durch Nebenarbeit das Mietgeld für unsere Wohnung verdient. Zur Verbesserung unserer Ernährung hatte meine Mutter mehrere Gartenparzellen auf der „Kippe“ gepachtet.
Als Älteste haben wir beide, meine Mutter und ich, hart gearbeitet in diesen Gärten, die eine Gesamtgröße von 750 m² hatten. Während meine Mitschüler an schönen Sommernachmittagen zum Baden gingen, verbrachte ich die Zeit im Garten. Diese, unsere, Arbeit bewahrte unsere Familie aber vor dem größten Hunger der Jahre 1916 bis 1918. in diesen Jahren starben doch recht viele Menschen an Unterernährung und ihren Begleiterscheinungen.
Um aber den Gartenboden ertragreich zu halten, zogen wir, mein Bruder Arthur und ich, mit einem Kinderwagen durch die Straßen, um Pferdedung zu sammeln. Pferd und Wagen waren damals noch die wichtigsten Transportmittel. Die Ausbeute war recht unterschiedlich; es gab doch eine große Konkurrenz bei diesem Sammeln. Bis außerhalb des Ortes verlegten wir dann diese Arbeit. Und war der Kinderwagen einmal voll, dann stieg einer von uns auf den Wagen und trat mit den nackten Füßen den Dünger recht fest, um noch weitere „Pferdeäppel“ aufladen zu können. Zu kurz kam in diesen Kriegsjahren aber auch die Schulbildung. Häufiger Lehrerwechsel Anfang des Krieges und damit keine festen Klassenlehrer waren die Folge, dann oft Zusammenlegung zweier Klassen in einem Schulraum und schließlich zwei Jahrgänge in einer Klasse als Dauerzustand. Zudem kam im Winter bei Kälte oft Ausfall der Schulstunden wegen Kohlenmangel. In den dunklen Wintermonaten gab es häufig kein Petroleum für die Lampen, um ordnungsgemäß die Schularbeiten ausführen zu können. Unsere Bekleidung muß in den letzten Kriegsjahren auch recht dürftig gewesen sein. Vom frühen Frühjahr bis in den Monat November hinein liefen wir Kinder barfuß. Wie oft waren da die Zehenspitzen wundgestoßen. Von Wundstarrkrampf war aber nicht einmal die Rede.
Der schlechte Gesundheitszustand unserer Schwester Berta in dieser Zeit zwang unsere Mutter dazu, bei den Bauern in der Umgebung nach Milch zu fragen. Hamstern nannte man diese Tätigkeit. Wer irgendwelche Gegenstände zum Tausch anbieten konnte, war glücklicher dran. Ob meine Mutter sie hatte, glaube ich kaum. Ich entsinne mich noch, daß meine Mutter und ich einmal am Elbdeich entlang bis Büttel zogen, dabei Kümmel pflückten und von Büttel aus am Bütteler Kanal entlang von Bauer zu Bauer nach Milch fragten. Unsere Ausbeute waren dann 2 Liter Milch in unserem Eimer. Vom Bahnhof St. Margarethen fuhren wir dann mit der Bahn wieder zurück. Zu der Zeit waren die 20 Goldstücke im Wert von 20 Mark, die meine Mutter zu Kriegsbeginn besaß, als Gegenleistung für Sonderurlaubstage für meinen Vater (ein Goldstück gleich ein Urlaubstag) schon lange verbraucht.
An ein Tauschgeschäft kann ich mich noch gut erinnern. Während eines Urlaubs meines Vaters von Sylt tauschte er seinen vorletzten Anzugsstoff – es war ein blauer – gegen einen Sack Mehl bei dem Bäcker Mussmann, jetzt Gallas. Dieser Sack Mehl, für uns eine Kostbarkeit, wurde oben auf dem Boden in der äußersten Ecke, gut getarnt, versteckt. Da gab es nach langer Zeit mal wieder Klöße mit Steckrübenmarmelade, gesüßt mit Saccharin, einem Süßstoff, hergestellt aus Kohle.
Im November 1918, mit dem Kriegsende, wurde mein Vater entlassen und kehrte zurück. Was er vorfand, war eine schlecht ernährte und schlecht gekleidete Familie, ein Laden, dessen Regale leer waren, eine Werkstatt, für die er keine Kohle hatte, um sie zu wärmen.
Die wenigen vorhandenen Brennstoffe wurden in der Küche zum Kochen gebraucht. Er war gezwungen, in der Küche auf dem kleinen Küchentisch seinen Arbeitsplatz neu aufzuschlagen. Wie schwer dieser Anfang gewesen sein mag, ist heute nur noch zu erahnen.
Mit solch harten, primitiven Gegebenheiten, wie sie der Krieg – und noch mehr die folgenden Nachkriegsjahre – brachten, haben meine Eltern fertig werden müssen. Sie konnten diese Notzeit nur überstehen, wel sie als Kinder schon Not und Härte gespürt hatten und mit diesen Dingen fertig werden mußten. Zudem war mein Vater in seiner Gesamteinstellung zum Leben ein Optimist mit einem ausgleichenden Wesen. Seine Lebensauffassung zeigt sich deutlich in einem Ausspruch, den ich mehrfach von ihm hörte: „Ein Lied, welches ich morgens pfeife, kann mir am Tag keiner nehmen“.

Mitte März 1920 wurde ich aus der 9. Klasse der Volksschule Nord entlassen. Mein letzter Klassenlehrer war Fritz Rathje. Mit ihm waren wir in den letzten und härtesten Kriegsjahren zusammen. Der Abschied von seinen Schülern muß ihm recht schwer gefallen sein, denn bei seiner Abschiedsrede konnte er einige Tränen nicht zurückhalten. Heute meine ich, er hatte um die Lücken in unserer Schulbildung gewußt, die ihm dann wohl das Herz schwer machten.


Mein Wunsch vor der Schulentlassung war, Feinmechaniker zu werden. Dieser Wunsch scheiterte aber an der Unmöglichkeit, eine Lehrstelle zu finden. Ob sich meine Eltern damals wirklich intensiv um einen Lehrplatz für mich bemüht haben, ist wohl schwer zu beantworten. Meinem Vater kann es nur recht gewesen sein, wenn ich nun am 1. April 1920 bei ihm in die Schneiderlehre kam. Arbeit war mehr als genug vorhanden, aber auch die Geldentwertung hatte eingesetzt. So nahm ich dann in der inzwischen wieder bezogenen Werkstatt den Tischplatz ein, den meine Mutter jahrelang innegehabt hatte. Von Begeisterung für meinen Beruf konnte anfangs nicht die Rede sein. An das Hocken auf dem Tisch, mit untergeschlagenen Beinen konnte ich mich nur schwer gewöhnen. Ich weiß, daß ich jedesmal vom Tisch sprang, wenn Bekannte in die Werkstatt kamen. Doch dann kam die Gewöhnung und damit erwachte zugleich auch mein Ehrgeiz, aus meinem Beruf etwas zu machen. Als Ausgleich für die doch etwas ungesunde, sitzende Beschäftigung turnte ich fleißig und regelmäßig im Männerturnverein Brunsbüttelhafen von 1892.
Unsere Werkstatt befand sich auf dem Hof in einem Anbau. Außer den beiden Arbeitstischen, die rechts und links von der Tür vor je einem kleinen Fenster standen, gab es noch die „Singer“-Nähmaschine. Nach rückwärts stand ein flacher Kohlebügelofen. Auf seiner Heizfläche standen drei Vollbügeleisen im Gewicht 12-16 und 24 Pfund. Das mittlere war noch das handgeschmiedete Eisen. Aus dieser Zeit stammt auch die Verbindung mit der Turnerin Alma Prien, meiner späteren Frau.
Wenn viel gebügelt werden sollte, wurde zur schnelleren Erhitzung der Eisen über Ofenplatte und Bügeleisen ein Eisenkasten gestülpt. Spaßeshalber habe ich mit diesem Eisen ein bißchen Schwerathletik betrieben. Ein Waschständer mit Schüssel vervollständigte die Ausrüstung. Über jedem Tisch hing außerdem noch eine Petroleumlampe. Im Winter war es meine Aufgabe, die Lampengläser schön zu putzen und Petroleum nachzufüllen. Dieser Werkstattraum ist später zu einer kleinen Stube umgebaut worden. Dabei wurden Fenster und Tür verändert. Die ausgebauten, nach oben runden, eisernen Fensterrahmen mit dem Gitterwerk und kleinen Scheiben wurden dabei in den kleinen Kohlenstall eingebaut. In dieser kleinen Werkstatt habe ich meine drei Lehrjahre verbracht. Sie waren voll ausgefüllt mit langen Arbeitstagen und -wochen. Die sich häufenden Aufträge zwangen sogar zur Sonntagsarbeit.


Eineinhalb Jahre lang haben mein Vater und ich in meiner Lehrzeit Sonntag um Sonntag bis in den Nachmittag hinein gearbeitet. Und wenn dann vom Kunden bezahlt wurde, hatte die Inflation schon ein gut Teil des Geldes wertlos werden lassen. Im dritten Lehrjahr, im Herbst 1922, versuchte ich meine Lehrzeit bei einem fremden Meister zu beenden. Meine Schwester Berta, die hier im Ort ihre Verwaltungslehre beendet hatte, war arbeitslos geworden. Sie hatte durch Verbindung eine Beschäftigung als Hausgehilfin in Leipzig angenommen. Dorthin fuhr ich nun, um bei ihrem Arbeitgeber Berufskleidung auszubessern. Zugleich suchte ich über die Innungsgeschäftsstelle einen neuen Meister. Meine Bemühungen blieben ohne Erfolg. So fuhr ich dann nach zwei Wochen von einem der 32 Bahnsteige des Hauptbahnhofs wieder heimwärts.

Am 17. März 1923 legte ich meine Gesellenprüfung in Meldorf ab. Zu der Zeit gab es noch keine Busverbindung und recht ungünstige Bahnverbindungen. Ich fuhr deshalb mit dem Fahrrad nach Meldorf, kam dort aber recht früh an. Mir kam deshalb der Gedanke, die Zeit mit einem Besuch des Landesdenkmals Dusenddüwelswarf bei Hemmingstedt zu überbrücken. Was ich zu der Zeit nicht einkalkuliert hatte, war die Entfernung und der schlechte Weg. Schweißbedeckt kam ich auf die Minute genau wieder beim Prüfungsmeister Lemburg an.
Nach bestandener Prüfung fuhren wir dann zu dritt als stolze, frischgebackene Gesellen mit dem Fahrrad nach Brunsbüttelkoog zurück.

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